Mutmaßungen und Tatsachen zum Arbeitsumfeld von Michael Deistler
Der Künstler Max Schulze im Gespräch mit Nora Sdun (September 2021)
M.S.: Bei der Recherche zum Buch über meinen Vater Memphis Schulze hatte ich die Möglichkeit im Nachlass von Achim Duchow zu arbeiten. Duchow lebte von 1972-1978 zusammen mit Sigmar Polke und vielen anderen auf dem legendären
Gaspelshof in Willich auf einem Rübenacker. In der Rezeptionsgeschichte zu Polke ist Duchow aus verschiedenen Gründen bis jetzt eine Leerstelle geblieben. Dabei stellte ich fest, dass in diesem Nachlass außer zu Memphis eben auch zu unglaublich vielen anderen sehr interessanten Künstler*innen der 1970er und 1980er-Jahre Spuren und Hinweise zu finden sind. Ich fand dort wahnsinnig tolles Material aus seiner Zeit in Hamburg, im Rheinland und von seinen zahlreichen Asienreisen. Dabei sind mir auch Unterlagen zu einem ZRK Verlag (Zum Richtigen Kurs Verlag) in die Hand gefallen.
Antiquarisch ergatterte ich einen Stapel dieser Bücher. Dabei handelt es sich um gelumbeckte Fotokopien eingebunden in einen Pappdeckel mit einem aufgedruckten Hai. Es sind z. B. ein Ausmalbuch von Angelika Oehms, Skizzenbücher von Duchow oder ein Fotobuch von Georg Herold mit eingelegten Originalen. Bis zu 26 Bücher hatte die Serie angeblich, wobei ich nicht glaube, dass alle erschienen sind. Gegründet worden ist der Verlag um 1976/77 in Hamburg von Achim Duchow zusammen mit Michael Deistler, Klaus Gaida, Georg Herold, Albert Oehlen und Angelika Oehms. Es gab gemeinsame Ausstellungen, in denen sie die Bücher und dazugehörige Editionen gezeigt haben. So zum Beispiel im Kunstverein Kassel oder der Galerie Gerhild Grolitsch in München 1978.
Erstehen konnte man diese Bücher ab 1977 in Hamburg bei Hilka Nordhausen in der BuchHandlungWelt, dann auch in Martin Kippenbergers Büro in Berlin, in der Galerie Erhard Klein in Bonn oder in der Buchhandlung Krauthammer in Zürich. So stieß ich das erste Mal auf den Namen Michael Deistler. In seinem Buch »Juni ‚78« zeichnete er in Comicmanier in seine Fotos hinein. Er wird zu Spiderman oder Galactus, und da ich mich thematisch sowieso mit dem Medium Comic und seinen Verbindungen zur bildenden Kunst beschäftige, fiel er mir natürlich sofort ins Auge.
Zu der Zeit wurde in dieser Gruppe um Sigmar Polke und seine Klasse an der HFBK sehr viel fotografiert. Duchow zum Beispiel war in den 1970er-Jahren vor allem für seine Tonbild-Shows bekannt. Für die Präsentation der Aufnahmen ermöglichte das Kodak-Diakarussell eine Narration, man konnte eine Geschichte erzählen, oft auch mit einer extra zusammen gemixten Tonspur auf Kassette. Wie ein Film. Außerdem war die Dia-Projektion die einzige Möglichkeit ein Bild richtig groß im Kontext einer Ausstellung zu zeigen. Alles andere war illusorisch teuer: etwa große Abzüge oder gar in Farbe. Auch die Möglichkeit massenmediale Bildwelten in diese Abfolgen zu integrieren, war für diese Generation äußerst spannend.
N.S.: Wie schätzt du die Beschäftigung mit Bunkern und Waffen und Adlern ein? Für mich ist das mackerhaft aber gleichzeitig eine verkappte, nicht ausgesprochene Beschäftigung mit den Nazi-Vätern. Das kann man generell für die Generation dieser »Mackerkünstler« der späten 1970er und frühen 1980er-Jahre feststellen.
M.S.: Klar, da gehört ja auch Immendorff dazu, das scheinen die totalen Prolls gewesen zu sein, die in der Kunstwelt herumgepoltert haben (es gab viel zu poltern, und distinguiertere Töne wurden überhört, wenn es sie überhaupt gab, herumpoltern ist ja auch eine Art von Selbstschutz). Das war bestimmt ein Angriff auf die Normalität der piefigen BRD. Aber man darf bei diesen Provokationen nicht vergessen, dass diese extreme, radikale Form der Auseinandersetzung, wie sie auch Deistler betrieb, wahrlich keinen Ruhm versprach. Das gilt gleichermaßen für die »niedrigen« Bildinhalte bei Sigmar Polke. Richtig berühmt wurde er mit den netten Rasterbildern und später als Alchemist, aber seine dreckigen und experimentellen 1970er-Jahre Bilder waren für viele Jahre ein No-Go. In der Ausstellung »Singular / Plural« haben wir versucht, diese künstlerischen Auseinandersetzungen in der Beziehung zur Elterngeneration, nicht nur bei Polke, herauszuarbeiten.
N.S.: Nochmal zu dem Style, den Lederjacken. Der Frage nach Kunst und Politik, von Style und Haltung, den Antagonisten: Radikalität und Erfolg am Kunstmarkt. Das bebt doch in den Arbeiten der späten 1970er-Jahre.
M.S.: Richtig, aber wirklich in Kraft gesetzt wurde diese Schizophrenie nur bei Polke, denn alle anderen haben in dieser Zeit niemals genug Geld mit ihrer Kunst verdient, um in die Situation zu geraten, linkspolitische kritische, radikale Aussagen in den Bildern zu machen und dafür konservative Kunden zu finden.
Man muss sich folgende Daten vor Augen führen: Am 9.5.1976 begeht Ulrike Meinhof im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim Selbstmord, am 21.5.1976 eröffnet Duchow seine Ausstellung »Viele Grüße aus Südamerika! Euer Martin« in der Galerie Erhard Klein, in der er sich mit Martin Bormann und Südamerika befasst. Gleichzeitig zeigen Achim Duchow und Christof Kohlhöfer in der Kunsthalle Düsseldorf eine Diashow und werden zensiert, weil sie die SS-Rune in Verbindung mit der Firma Mannesmann (Röhren-Werke) bringen. Seit 1976 laufen die Demonstrationen gegen Brokdorf. Das ist alles zeitgleich. Bei der Ausstellung »Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen« in der Galerie Tony Gerber kommt es 1976 zu einer Schlägerei mit der Berner Polizei. Buback und Ponto werden ermordet und Schleyer wird am 5.9.1977 entführt. Das war schon eine extreme Lebensrealität in der sich die Künstler*innen damals bewegten. Auf den Fotos vom Deistler kann man dieser Stimmung gut nachspüren.
Sich in der Stadt herumzutreiben war wohl ein Polkeklassen-Ding, die Studierenden hatten »Aufgaben«, z. B. Obdachlose zu fotografieren. Daraus resultierende Diashows wurden dann z. B. im SO36 in Berlin gezeigt oder bei der BuchHandlungWelt in Hamburg. Es ging darum, nicht auf die neue saubere BRD zu schauen, sondern auf die Rückseite des Kühlschranks, in den Dreck, das zu zeigen, was verdrängt wurde. Das eben überall die braune Scheiße hochbrodelt. Das war zum damaligen Zeitpunkt sehr gut zu fotografieren, weil die Städte den Blick hinter die Fassaden zuließen, man konnte die Strukturen sehen, die Brüche in der Geschichte, das Raue, Unaufgearbeitete. Unterstützt wird dieser Blick durch die Materialität der schwarzweißen krisseligen Handabzüge mit allen Flecken und Fehlern.
Interessant bei Deistler zu beobachten ist seine Entwicklung von den ersten Fotoexperimenten, angeregt durch Polkes Fotografisches Werk, über die Übermalungen der eigenen Fotos mit Comicelementen bis hin zu seinen Kästchenzeichnungen, die während seines DAAD Stipendiums in Kairo entstanden sind. Diese sind so überspitzt, das bleibt auch ohne die wiedererkennbaren Comicfiguren auch wegen der eingefügten Worthülsen comichaft. Er zeichnet, klebt nun umgekehrt Fotos in die Zeichnungen, schematische Bunkerzeichnungen tauchen als Wandmalereien auf, und man merkt wie stringent und konzentriert das alles ist und dabei trotzdem experimentell. Die grünen Krustenmalereien, die 2013 in der Galerie Dorothea Schlueter gezeigt wurden, sind ganz klar eine Weiterentwicklung seines Themenfelds, zugespitzt auf: Camouflage, Tarnung, Krieg, Drohnenflug, Überwachung. Themen, die mich in den letzten Jahren auch sehr als Künstler beschäftigt haben.
Max Schulze ist Künstler, Kurator und Sammler. 2017 hat er zusammen mit Petra Lange-Berndt, Dietmar Rübel und Gregor Jansen die Ausstellung »Singular / Plural. Kollaborationen in der Post-Pop-Polit-Arena« in der Kunsthalle Düsseldorf konzipiert, in der auch Michael Deistler gezeigt wurde.